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Ortsschild
Nauholz lebt:  Mein Bullerbü

 

Mein „Bullerbü“ war Nauholz    

                             v. Christa Wolf geb. Mtotzek*

Ankommen in Nauholz

Es war im Jahre 1946, Ende des Krieges, als wir, meine Großeltern, Lotte und ich im Viehwagen von Schlesien in eine fremde Stadt gebracht wurden.

In einem kleinen LKW brachte man uns dann nach Nauholz, Kreis Siegen, wo sich jetzt die Obernau-Talsperre befindet.

Wir hatten nur Handgepäck dabei. Ich hatte einen kleinen, roten Koffer, in dem sich meine Puppe befand. Ich war 9 Jahre alt. Auf dem Rücken hatte ich einen Ranzen mit einigen Dingen darin. Nun standen wir da und hatten keine Bleibe.

Der Bürgermeister wollte uns aufteilen und einzeln bei den Bauern unter-bringen. Mein Großvater bestand darauf, dass die Familie zusammenbliebe. Da kam dem Bürgermeister ein Gedanke: Er rief in der Stadt den Wandervogel-Verein an. Diese Städter hatten ein altes Haus gemietet, um nach der Wanderung dort übernachten zu können. Das Haus war ein altes Fachwerkhaus, bei dem sich zwischen dem Fachwerk kein Putz mehr befand und man Stroh und Lehm er-kennen konnte. Im Untergeschoss wohnte eine Witwe mit 3 Kindern und eine alte blinde Oma. Wir bekamen im Obergeschoss ein Zimmer. Um dieses zu erreichen, mussten wir eine alte, dunkle Stiege hinauf gehen.

Das Zimmer wurde schnell einigermaßen vom Unrat befreit und wir konnten es bewohnen. Später kam noch meine Tante mit ihrem Sohn und wir bekamen noch ein Zimmer dazu. Danach traf auch noch mein Onkel Artur aus der russischen Gefangenschaft ein.

Im ganzen Dorf gab es nun eine Welle der Spendenbereitschaft. Man spendete Möbel usw. und wir bekamen zu essen. Wir richteten uns ein und es wurde gemütlicher.

Ein kleiner Bach befand sich direkt beim Haus, so dass wir Wasser hatten. Anstelle eines WCs befand sich im Hof ein „Plumsklo“.

Nauholz war ein Dorf mit 21 Häusern. Es gab keine Kirche, keine Schule und keinen Laden. Zur Schule musste man 2-3 km laufen. Für mich war der Weg unendlich lang.

Nauholz hatte einen besonderen Briefkasten. Wenn man keine Briefmarke hatte, warf man den Brief ohne Marke hinein und das passende Geld in Papier dazu. Der Briefträger, der von weither mit dem Fahrrad kam, erledigte den Rest.

Frieda

Bald fand ich auch eine Freundin. Sie hieß Frieda. Wir gingen eng umschlungen durch den Ort. Damit wollten wir zeigen, dass wir dicke Freundinnen waren. Wir spielten mit Papierpuppen und malten und schneiderten neue Kleider. Wir waren also die Vorfahren von Karl Lagerfeld. Nur gab es so wenig oder gar kein Papier. So fanden wir beim Bürgermeister auf dessen Plumsklo Papier, das auf einer Seite nicht bedruckt war zum Bemalen.Manchmal hörten wir Kalle Blomquist im Radio. Unsere Ohren hingen am Radio, ein eigenes hatten wir ja nicht. Friedas Eltern waren nicht reich. Sie hatten 2 Ziegen, 1 Kuh und 2 Schweine. Hinter dem Haus gab es eine große Wiese, am Ende floss ein kleiner Bach.

Im Sommer stauten Frieda und ich den Bach. Dann setzten wir uns hinein. Frieda hatte einen größeren Bruder. Der sammelte Brennnesseln und wollte sie mir an meine nackten Beine und Füße schlagen. Frieda rief verzweifelt ihre Mutter. Die erschien dann am Fenster und schimpfte den Bruder.

Frieda und ich liebten Blumen. Wir gingen in die Wiesen. Dort pflückten wir die wunderschönen Wiesenblumen und Vergissmeinnicht. Wir durften uns aber nicht erwischen lassen; denn die Bauern fanden es gar nicht gut, dass wir das Gras niedertraten. Wir taten es aber immer wieder. Dann kam der August. Auf Friedas Wiese gab es einen Apfelbaum mit reifen Äpfeln.

Eines Tages bekam Frieda einen Vollgummiball geschenkt. Da kamen alle Kinder aus dem Dorf und bewunderten den Ball. Damals gab es ja nur Lumpen-Bälle, die gar nicht hopsten. Dann hatte es sich im Dorf herumgesprochen, dass eine Nauholzerin Löcher für Ohrringe in die Ohren stechen konnte. Frieda und ich wollten auch Ohrringe haben. Wir gingen hin. Die Frau arbeitete mit Seife, Nadel und Zwirn und wir mussten einige Zeit mit einem Zwirn-Ohrring laufen, was Frieda und Ich mit Fassung trugen.

Zu unserem ersten Weihnachtsfest wurden wir ins Nachbarhaus eingeladen. Das Wohnzimmer war festlich geschmückt. Ich musste ein Gedicht aufsagen, welches ich in der Schule gelernt hatte. Wir Flüchtlingskinder bekamen alle eine Tüte mit Plätzchen. Wahrscheinlich hatte das Nauholzer Christkind sie für uns gebacken! Unser Weihnachtsfest war etwas einfach. Wir hatten auch einen Tannenbaum - aber keinen Schmuck dafür. Im Wald fanden wir eigenartig silbrige Streifen. Sie waren vom Krieg übriggeblieben. Wir schnitten Streifen daraus und hatten Lametta. Lotte bastelte Papiersterne, Großmutter hatte einen Kuchen gebacken. Darauf kamen Bucheckern, die wir von der Schale befreit hatten.

Dann möchte ich noch Frau Wagner erwähnen. Sie war eine Frau mit Herz. Sie trommelte Mütter, die Zeit hatten, zusammen, damit diese aus den Kleiderspenden Kinderkleider nähen konnten. Wir Kinder wuchsen schnell aus den Kleidern heraus. Ich bekam dann ein schwarzes Kleid mit Herzknöpfen. Meine Schuhe waren zu klein geworden, und so lief ich den ganzen Sommer barfuß.

Im Sommer hatte der liebe Gott zu dieser Zeit viele Waldbeeren wachsen lassen. So gingen wir jeden Nachmittag in den Wald zum Beerensuchen. Wir Kinder (Fred und ich) bekamen je eine 1-Kil-Dose mit einer Schnur um den Hals gebunden. Fred weinte, weil ihm das zu schwer erschien und Großvater gab ihm dann einige Beeren hinein, damit er die Dose schnell voll hatte. Abends kam dann ein kleines Lieferauto und holte die Ware ab, die wir verkauften. Einige Beeren behielten wir und aßen sie abends mit Milch. Zu dieser Zeit kamen auch Städter mit LKW und wollten Beeren pflücken. Sie fragten nach den besten Plätzen. Die gaben wir aber nicht preis, sondern schickten sie an eher beerenlose Stellen.

Edith

Dann gab es noch eine Freundin Edith. Sie brachte mit Mundharmonika spielen bei. Sie konnte wunderbar spielen. Einmal fragte sie mich, ob ich mitgehen wollte; sie musste Kühe vom Weidekamp holen. Unten angekommen, rief sie und die Kühe kamen alle herunter und wir trieben sie ins Dorf. Dabei erzählten wir uns dies und das. Als die Kühe im Dorf angekommen waren, gingen sie selbstständig in ihre Ställe. Wir bewunderten alle, dass Kühe so schlau sein können.

Das Haus, in dem Edith zuhause war, lag in der Mitte des Dorfes. Manchmal spielten wir Mädchen Verstecken gegen Jungen aus dem ganzen Dorf. Da verschanzten wir Mädchen uns in diesem Haus. Mal riefen wir aus dem Fenster nach oben ins Dorf, mal nach unten ins Dorf. Die Jungen fanden uns nie!

Edith hatte einen großen, blonden Bruder. An einem Sonntag bekam er Besuch von einer jungen Dame. Sie war fein gekleidet und trug Pumps. Edith und ich beäugten sie neugierig. Sie erschien uns aus einer anderen, eleganten Welt und wir nannten sie „Olga de Pumps“. Später erfuhr ich, dass sie eine perfekte Schneiderin war.

Der Bruder Willi konnte auch auf dem Akkordeon spielen. So kam es, dass er an einem Sommerabend zum Tanz aufspielte. Vor dem Haus war eine wunderbare Tanzfläche aus Beton. Fred und ich schauten neugierig aus dem Fenster und sahen dem Treiben zu.

Otto

Unserem Haus gegenüber stand eine große Linde. Unter der Linde war eine Bank. Dort saß Otto und spielte mit seinem Schifferklavier herrliche Lieder. Mutter sagte: “Willst du nicht Otto Gesellschaft leisten?“ Ich ging hin. Otto lehrte mich das Lied „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt…“ Wir wussten beide nicht, wo Capri war. Es musste dort aber schön sein.

Otto musste auch Kühe hüten. Es war wohl sehr langweilig und ich leistet ihm Gesellschaft. Eines Tages begleitete ich ihn in einen Keller. Dort dampfte und brodelte es. In einem großen Kessel kochten kleine Kartoffeln. Sie waren für die Schweine bestimmt. Otto zeigte mir, wie man Kartoffeln pellt. Er war ja einige Jahre älter als ich. Er pellte auch welche für mich, dann holte er heimlich Butter. Wir saßen da und aßen genüsslich Schweinekartoffeln mit Butter. Am Abend holte er Äpfel vom Baum und gab sie mir. Ich hatte ja auch immer Hunger!

In dieser Zeit gab es in der Schule „Schulspeisung“. Täglich bekamen wir Milchsuppe mit Rosinen. Wer zuletzt an der Reihe war, bekam etwas mehr Rosinen, da diese meistens auf dem Boden des Topfes waren.

Im Sommer roch es im Tal wunderbar nach frisch geschnittenem Gras, das die Bauern mähten. Im Sommer wuchsen nahe der Straße Mairübchen auf einem Feld. Wir Kinder ernteten fleißig! Sie schmeckten sehr gut. Einmal kam ein Bauer mit einem Kuhfuhrwerk mit Säcken auf dem Wagen. Er lud uns Kinder ein, mitzufahren. Wir setzten uns auf die Säcke und sangen, bis wir im Dorf ankamen.

Mai

Dann kam der Mai. Das Mai-Mädchen wurde, wie jedes Jahr im Mai, angesagt. Es wurde getuschelt und niemand sollte wissen, wer dieses Ma das Maimädchen sein sollte. Da wurde ich auserkoren. Meine Muttel hatte ein rosafarbenes Betttuch aufgetrieben und nähte mir daraus ein Kleid auf der Nähmaschine von Tante Leni.

Am 1.Mai, früh am Morgen, holten Frieda und ich en Birkenbäumchen aus dem Wald und schmückten es mit bunten Bändern. Die größeren Mädchen flochten aus Wiesenblumen einen Kranz. Den Kranz setzte man mir auf den Kopf. Meine Zöpfe wurden zu langem Haar gelassen.

Zuerst ging eine mit dem Birkenstamm, dann kam ich wie eine Prinzessin, danach alle anderen Mädchen. Einige hatten einen Korb dabei. Dann zogen wir von Haus zu Haus und sangen „Der Mai ist gekommen…“. Die Großen sagten einen Spruch auf. In der zweiten Strophe des Liedes hieß es: „Mein Herz ist wie eine Lerche…“ Da ich aber keine Lerche kannte, sang ich aus voller Kehle. „Mein Herz ist wie eine Leiche…denn Leichen kannte ich ja schon. Wir sammelten Eier, Geld und Süßigkeiten und teilten alles unter uns auf.

Erntezeit

Im Oktober fand die Kartoffelernte statt. Muttel, meine Großmutter und ich halfen dabei. Wir sammelten die Kartoffeln auf. Zur Mittagszeit kam die Bauersfrau mit einem Korb. Sie brachte das selbst gebackene Brot und Marmelade und sonstiges Leckeres. Wir ließen uns am Ackerrain nieder und ließen es uns schmecken. Das war das Schönste an der Kartoffelernte. Nach der Ernte bekamen wir einen Sack Kartoffeln geschenkt.

Im Herbst wurde das Korn gedroschen. Wir Kinder waren auch dabei. Es gab viel Lärm und Staub. Man musste das Stroh zu einer Garbe zusammen bündeln. Ich lernte es schnell und es machte Spaß.

Am Dorfeingang gab es ein Backhaus. Dort konnte man zuschauen, wie Brot und auch Kuchen gebacken wurde. Das war sehr interessant.

Onkel Artur überwachte die Schulaufgaben von Fred und mir. Fred war mein Cousin. Einmal lieh er sich einen kleinen Handwagen und wir durften Holz aus dem Wald holen. Fred und ich mussten mitkommen. Wir sammelten Holz und luden es auf den Handwagen. Dann zeigte uns Onkel Artur, wie wir mit großen Knüppeln den Wagen bremsen sollten. Wir fuhren nämlich den Berg hinunter. Der Wagen fing an zu rollen und Fred und ich hatten nicht die Kraft zu bremsen. Aus Angst liefen wir einfach weg. Der Onkel schimpfte und musste selbst sehen, wie er den Wagen ins Tal brachte.

Rodeln

Dann kam der Winter. Er brachte viel Schnee. Die Rodelbahn ging genau an unserem Haus vorbei und ich hätte gerne mit gerodelt. Ich musste aber noch viele Hausaufgaben machen und so schielte ich immer zu den rodelnden Kindern. Das war Muttel nicht entgangen. „Geh hinunter rodeln!“ Ich zog mich schnell an und hüpfte die Stiege hinunter. Schon war ich bei den anderen Kindern. Wir zogen die Schlitten hinauf und dann ging es wieder hinunter. Manchmal wurden die Schlitten zusammengebunden. Wir hatten viel Spaß! Als es dunkelte gingen wir alle wieder heim. Da fiel mir ein, dass ich ja noch meine Hausaufgaben zu Ende machen musste; aber meine Rechenaufgaben hatte Muttel ausgerechnet und ich brauchte sie nur noch abzuschreiben.

Nauholz gibt es nicht mehr. Die Bewohner mussten Ende der 60er ihre Heimat verlassen. Man nannte es Umsiedlung. Auf der Landkarte vom Siegerland sieht man die Obernautalsperre. Dort lag Nauholz. Es war mein „Bullerbü“.

Und wenn ich heute nach vielen Jahren frisch gemähtes Gras rieche und auf dem Markt die Mairübchen sehe, denke ich an mein Bullerbü-Nauholz!

 

*Christa Wolf, geb. Mtotzek, kam als Flüchtlingskind nach dem   Zweiten Weltkrieg aus Schlesien nach Nauholz und wohnte einige Jahre im „Wandervöjjels-Huss“. Sie lebt heute in Essen-Vogelheim und stellte uns ihre Erinnerungen zur Verfügung.